Ein zweiter Tag in der Krankheit

24.08.2014 19:44

Um 4.30 Uhr klingelt, wie jeden Tag mein Handy und reißt mich aus meinem Schlaf. Ich bin schon seit mindestens einer Stunde wach und plane meine Woche. Es ist Montag in der Früh und mein erster Weg geht auf die Toilette und danach wieder zurück in mein Zimmer. Ein Griff unter mein Bett und wie gewohnt das morgendliche Prozedere: Auf die Waage stellen und abwarten, bis die Zahl erscheint. 600 Gramm weniger; nochmal runter und wieder drauf. Immer noch 600 Gramm weniger; noch einmal runter und wieder drauf. Und immer noch sind es 600 Gramm weniger als gestern. Ich packe die Waage wieder weg, gehe in Whatsapp und verschicke die Nachricht in der ANA-MIA-FLOWERGIRL-Gruppe: „Guten Morgen, Mädls! Heute 600 Gramm weniger als gestern“. Dann noch ein Foto anhängen und ich mache mich auf den Weg in die Küche, decke schnell den Tisch für meine Eltern und lege mir dann zurecht, womit ich heute meinen Teller dekorieren werde. Am einfachsten ist es mit Brotkrümmeln und Marmelade, aber das habe ich letzte Woche schon fast jeden Tag verwendet, ich sollte wieder mal Müsli hernehmen. Also hohle ich die Haferflocken aus dem Regal, meine Frühstücksschüssel aus dem Schrank, stelle noch die Kaffeemaschine auf den Herd und während der Kaffee kocht, weiche ich eine Portion Haferflocken in Milch auch und kippe den „Brei“ anschließend in eine Plastiktüte, die ich dann erst einmal bei Seite lege. Inzwischen ist der Kaffee fertig; ich kippe ihn in eine Tasse noch Milch dazu und dann landet mein Latte im Abfluss. Tasse und Schüssel stelle ich ins Spülbecken, dann nehme ich die Plastiktüte mit meinem Frühstück und verschwinde in meinem Zimmer.

Dort hohle ich aus meinem Nachttisch die Dose mit ähnlichen Plastiktüten vom Wochenende heraus und verstaue diese mit der von heute in meiner Schultasche. Die erste Hürde von heute ist geschafft. Inzwischen ist es 5.15 Uhr und ich habe noch 45 Minuten bis mein Vater runter kommt, um zu frühstücken. Im Eisfach liegen knappe 3 Kilogramm Eiswürfel, die ich gestern Nacht noch vorbereitet habe. Mittlerweile läuft das alles wie im Schlaf ab. Im linken Schrank im Bad liegt mein roter Ballettanzug. Ich ziehe ihn an, kippe die Eiswürfel in die Badewanne, stelle den Countdown auf 32 Minuten ein und lege mich in das vorbereitete Eiswürfelbad und höre in den 30 Minuten genau 10 mal „L'altra parte di me“ aus dem Film „Maledimiele“. Etwa gegen 5.50 Uhr sind die 30 Minuten vorbei; ich steige aus der Badewanne, putze mir die Zähne und trinke meine ersten zwei Liter Wasser für heute.

Inzwischen ist mein Vater auch schon wach und ich mache mich daran, die Eiswürfel in der Badewanne zum Schmelzen zu bekommen. Gerade als ich fertig bin, höre ich die Küchentür und wie mein Vater die, von mir bereitgestellte Kaffeemaschine auf den Herd stellt. Danach kommt er in mein Zimmer und legt mir, wie jeden Montag die 10 Euro Mittagsessensgeld für die kommende Woche auf den Tisch.

Bevor ich mich für die Schule anziehe, muss ich noch meine ersten 100 Hampelmänner hinter mich bringen und dann endlich ziehe ich mich an, schminke mich und schaue dann auf mein Handy. Natürlich haben alle fünf Twins mir schon geantwortet. Anna hat 300 Gramm abgenommen, Lena hat gehalten, Mona hat 200 Gramm abgenommen, Sara ebenfalls und Verena hat sogar zugenommen. Heute bin ich also endlich mal die Beste!

Bevor ich aus dem Haus gehe, kommen die 10 Euro in meine Spardose und ich geben meinem Vater noch Bescheid, dass ich heute wieder mit dem Fahrrad in die Schule fahre.

Auf der 45 Minütigen Fahrt höre ich wieder „L'altra parte di me“. Heute sind es 11 Durchgänge; letzte Woche waren es schon mal nur 10 gewesen; ich hab mich verschlechtert...

Montag ist ein schulisch gesehen sinnloser Tag. Doppelstunde Kunst, dann Biologie, dann Sozialkunde, dann Englisch und dann Deutsch. Die paar Stunden vergehen schneller als gedacht und um 13.00 Uhr habe ich bereits weitere 2 Liter Wasser getrunken. Der eigentlich schwierige Teil des Tages sind die vier Freistunden. Eine davon ist SMV-Sitzung; da fällt es nicht auf, dass ich nicht esse. Immerhin muss ich ja mitschreiben, weil ich Protokollführerin bin, aber die anderen drei Stunden werden schwierig. Da essen dann doch irgendwie alle was und jeder schaut doof, wenn ich nichts zu Mittag esse. Aber so schwer ist es dann doch nicht; ich gehe für zwei der Freistunden in den Silenziumraum und erledige die bereits angefallenen Aufgaben. Danach haben die meisten meiner Freunde schon wieder Unterricht und ich konnte erfolgreich das Essen umgehen. Auf meinem Handy werden schon wieder mehrere Nachrichten von meinen Twins angezeigt. „Vier Stunden tanzen“, „Zum Mittagessen ein halber Apfel“, nur Verena hat es nicht geschafft und schreibt, dass sie einen ganzen Teller Salat gegessen hat. Ich lache in mich hinein und verschicke eine Nachricht über den bisherigen Verlauf meines Tages.

Jetzt nur noch Doppelstunde P-Seminar und das war es dann. 45 Minuten mit dem Fahrrad nach Hause und gegen 17.45 Uhr bin fertig umgezogen, um Joggen zu gehen.

Als ich nach Hause komme, springe ich schnell unter die Dusche und bereite dann die 3 Kilogramm Eiswürfel für morgen vor. Danach habe ich noch etwas Zeit bis mein Vater von der Arbeit kommt und wir zu Abendessen. Es ist 18.45 Uhr. Diese viertel Stunde reicht, um nochmal

200 Hampelmänner zu machen und meinen Twins über den Stand der Dinge zu informieren. Sie spornen mich an, mehr Sport zu treiben, aber ich weiß nicht woher ich mir die Zeit dafür nehmen soll; Anna ist heute vier Stunden im Fitnessstudio gewesen, ich dagegen bin nur Joggen gewesen und habe ein paar lächerliche Hampelmänner gemacht. Mit dem Fahrrad in die Schule zu fahren ist kein Sport, meint Sara und bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich bin umsonst stolz gewesen.

Es ist 19.00 Uhr und ich habe noch nichts für die Schule gemacht; das kann ja eine lange Nacht werden heute.

Mein Vater ist aus der Arbeit zurück und geht mit meiner Mutter spazieren. Jetzt habe ich genau 30 Minuten, um das Abendessen vorzubereiten. Ich schnappe mir die 10 Euro und fahre mit dem Fahrrad zum Edeka. Im Schnelldurchgang kaufe ich Gorgonzola und Gorgonzola light, Frischkäse und Frischkäse light, Mich 3,8% Fett und Milch 0,1% Fett. Jetzt hab ich noch 15 Minuten, um nach Hause zu kommen, die Produkte umzufüllen und den Tisch zu decken.

Als meine Eltern wieder daheim sind, ist der Tisch gedeckt. Auf meinem Teller liegt eine Scheibe Brot und Salat ohne Dressing. In der Mitte des Tisches steht die große Salatschüssel mit Balsamicodressing und der Brotkorb, daneben der Gorgonzola und der Frischkäse. Auf meinem Teller liegt ein Stück des Gorgonzola lights und im Kühlschrank steht die 3,8% Fette Milch beschriftet mit SMV-Maria Stern. Zu meinen Eltern sage ich, wie jeden Montag: „Das ist die Milch aus dem SMV-Zimmer. Wir haben sie heute aufgemacht, aber weil wir keinen Kühlschrank haben, hab ich sie diesmal mitgenommen. Ihr dürft die aber nicht trinken, morgen nehme ich die wieder mit in die Schule.“ Ich kann den Satz inzwischen auswendig.

Wir beginnen zu essen und ich trinke weitere zwei Liter Wasser.

Nach des gemeinsamen Essens, was mir unendlich lange vorgekommen ist, räume ich den Tisch hab und begebe mich ins Bad: „Ich gehe mir noch die Beine rasieren; also Gute Nacht Mama und Papa!“

Im Bad lasse ich den Wasserhahn der Badewanne laufen und erbreche das komplette eben zu mir genommene Abendessen. Der Tag ist fast überstanden. Nachdem ich mich umgezogen, abgeschminkt und nochmal 100 Hampelmänner gemacht habe, gehe ich in die Küche und koche mir einen Kaffee; da ich noch viel zu tun habe, nehme ich die große Cafetiera für 12 Personen. Während ich in der Küche warte, dass mir endlich der Kaffeegeruch in die Nase steigt, schreibe ich meinen Twins eine Tagesbilanz und lese mir durch, wie ihr Tag abgelaufen ist. Außer Verena ist eh keiner mehr wach, also kann ich mit Antworten frühesten Morgen rechnen. Erleichtert lege ich mein Handy zur Seite, wasche die Cafetiera und mache mich mit dem Kaffee auf den Weg in mein Zimmer. Inzwischen ist es fast 21.30 Uhr und meine Eltern schlafen schon lange. Das ganze Haus ist still und ich kann mich in Ruhe auf den morgigen Tag vorbereiten. Erstmal überlegen, wann ich morgen Freistunden habe und wie ich es umgehen kann, dass ich dabei von anderen Mitschülern umgeben bin. Dann packe ich meine Schultasche, gehe ein letztes Mal meinen Vortrag für die SMV-Schulforums-Sitzung durch und beginne dann meinen Schreibtisch aufzuräumen. Als ich damit fertig bin, ist alles hergerichtet und ich mache mich daran meinen Lernplan für die kommenden Tage zu aktualisieren. Nachdem ich alle meine Hausaufgaben schon in der Schule erledigt habe, wäre jetzt eigentlich alles fertig, aber nach dem Kaffee bin ich nicht mehr müde und ich anstatt mich ins Bett zu legen, ziehe ich mir meine Jacke an, nehme mein Handy und die Kopfhörer mit und mache mich auf den Weg in den Park. Es ist bereits 23.00 Uhr und draußen ist kein Mensch unterwegs. Wieder dröhnen mir die Worte von Chiara Iezzi im Ohr. Nach einer halben Stunde kann ich sie aber nicht mehr hören; deswegen laufe ohne Musik weiter durch den verlassenen Park und lasse meinen Gedanken freien Lauf bis ich um 24.00 Uhr wieder zu Hause bin. Dummerweise ist immer noch kein Gefühl von Müdigkeit zu verspüren, im Gegenteil. Also lege ich mich noch nicht ins Bett, sondern packe mir meine Spitzenschuhe aus und versuche mich darauf zu konzentrieren die Ballettübungen zu Tschaikowskis „Sterbenden Schwan“ richtig und präzise auszuführen. Um 01.00 Uhr bin ich dann doch endlich so müde, dass ich mich ins Bett lege und versuche einzuschlafen, was aber einfach nicht klappen möchte. In Gedanken bin ich bei Morgen früh und der Waage, die so unscheinbar unter meinem Bett liegt, als würde sie überhaupt keine Rolle spielen in meinem Leben...